12. Oktober 1307 , morgens - Abmarsch in den Wald d. Orients
Der Wald des Orients war uralter Templerbesitz. Wer immer ihn dem Orden übereignet hatte, musste um die mystische Wirkung, dieser nach keltischem Verständnis hochheiligen Stätte, gewusst haben. Nur Eingeweihte kannten die schmalen Pfade, auf denen man in das Innere dieses Waldes wie in das Herz eines lebenden Wesens vordringen konnte. Jeder Unkundige, der es bisher mit dem natürlichen Abwehrmechanismus dieses dunklen verzauberten Ortes aufgenommen hatte, war von ihm verschlungen worden. Nur in wenigen, glücklichen Ausnahmefällen hatte die Wildnis die Unseligen wieder ausgespuckt, allerdings für den Preis dass sie fortan von Sinnen zu sein schienen, da sie sich Zeit ihres restlichen Lebens von unsichtbaren Wesen verfolgt fühlten.
Aber auch die willkommenen Gäste mussten zunächst einmal ihre tiefsten, menschlichen Ängste überwinden, um sich auf dieses märchenhaft anmutende Reich der Waldelfen und Wassergeister einzulassen. Struan und Gero hielten sich als Nachhut dicht hinter der vorausreitenden Gruppe. Wenn es ihnen möglich war, zogen sie es vor nebeneinander zu reiten. Doch in den meisten Fällen dirigierten sie die Pferde nacheinander und mit äußerster Umsicht durch das unwegsame Gelände.
Theobald führte die Brüder mit der gegebenen Aufmerksamkeit und überzeugte sich immer wieder persönlich davon, ob keiner der Mitreisenden den Anschluss verpasst hatte. Manchmal hingen die Äste der Sträucher und die Ranken, die sich von den umgebenden Bäumen herabließen wie grüne Schlangen, so dicht über dem Weg, dass sie sich mit ihren Schwertern eine Schneise schlagen mussten.
Wie in einem Labyrinth folgte die Gruppe bald darauf Bruder Theobald auf einem verschlungenen, waghalsigen Pfad, durch ein unwegsames Sumpfgebiet. Ziel war ein ganz bestimmtes Wasserreservoir. Jeder Tritt verursachte ein schmatzendes Geräusch.
Mücken tanzten in den letzten wärmenden Sonnenstrahlen und ein moderiger Geruch nach verrottendem Laub und Schlamm überzog das Gelände. Struan beobachtete, wie ein dicker braun gesprenkelter Frosch ins Wasser hüpfte, um sich vor den Hufen seines Rappen in Sicherheit zu bringen. Die zuvor glatte Oberfläche der Teiche wurde nun immer wieder von kleinen Wellenbewegungen erschüttert, denen platschende Geräusche vorangegangen waren.
Kurz vor dem eigentlichen Zielort gab Theobald letzte Befehle und schließlich stoppte der Trupp auf einem kleinen befestigten Damm. Es dauerte eine Weile bis sich die Gruppe soweit organisiert hatte, dass jeder gefahrlos absteigen konnte, ohne unweigerlich im Morast zu versinken. Sechs Männer, unter ihnen Struan, die ihre Packpferde den anderen Brüdern zum Abladen überließen, saßen sofort wieder auf und ritten auf einem schmalen Pfad die Lichtung entlang zum Waldrand, um dort ihre Positionen einzunehmen, für den Fall, dass sich unangekündigter Besuch anmeldete.
Die Bauleute folgten Theobald zu einer seitlichen Erdaufschüttung, die dicht bewachsen war und keinerlei Hinweis auf einen Einstieg oder einen Zugang gab.
Trotzdem wussten die Männer genau, wo sie Hacke und Spaten ansetzen mussten. Mit einem Stück Schnur ermittelten sie von einem unscheinbaren Punkt aus exakt den Radius, indem sich das Tor zur Unterwelt befand.
Mehrere gezielte Spatenstiche markierten die Stelle, an der die Hacke vorsichtig die Grasnarbe aufdeckte und dahinter wie von Zauberhand eine eiserne Tür zum Vorschein brachte.
„So“, entschied Bruder Theobald, offenbar erleichtert darüber, dass die erste Etappe seiner Mission erledigt war. „Ihr könnt abladen!“
Hand in Hand arbeiteten die Brüder daran, die unauffälligen Kisten durch den engen Zugang im Depot verschwinden zu lassen. Gero beeilte sich, seinem Vorgänger, der den finsteren Gang mit einer Fackel ausleuchtete, zu folgen und brachte seine Kiste in einen seitlich liegenden, kleinen Hohlraum, in dem er nur gebückt stehen konnte. Es roch nach Lehm und Moder und erinnerte ihn an eine Grabkammer. Dankend nahm er die Aufforderung seines Nebenmannes an, den Weg zurück an Tageslicht anzutreten.
Nachdem auch die letzte Kiste in dem unscheinbaren Versteck verschwunden war, wurde die Tür verschlossen und mit den herausgestanzten Grasbüscheln sauber abgedeckt. Nachdem alles wieder an seinen ursprünglichen Platz gelandet war, gab Theobald das Zeichen zum Aufbruch.